
08
Jan
2008
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- Veröffentlicht: 08. Januar 2008
Wenn die Mutter als letzte erzieherische Maßnahme ihrem Kind einen Klaps auf den Hintern gibt, dann definiert sie damit die Grenzen eines Wertesystems. „Bis hier hin und nicht weiter!“ Manchmal scheint es, als müsste man sich bei der Erziehung heranwachsender Menschen mehr mit den Grenzen seiner eigenen Werteskala befassen, als mit den vielen Farbtönen die zwischen den Begrenzungswerten liegen. Es ist wie „Schiffe versenken“ - die Eltern haben für sich bewusst oder unbewusst ein Wertesystem definiert, das sie in den seltensten Fällen wirklich verbal formulieren oder auf eine andere Art ihren Kindern plakativ darstellen, sondern in den meisten Fällen nur vorleben können. Situative Lösungsstrategien des ein oder anderen Alltagsproblems, der generelle Tenor in der Kommunikation, Verhaltens- und Argumentationsmuster erzeugen dabei Codes, die die Heranwachsenden erst mit der Zeit zu entschlüsseln lernen. Die Kinder ihrerseits erleben eine täglich fortschreitende Ernüchterung. Während Sie einerseits mit der Naivität des Unwissenden auf alles Neue zugehen und versuchen, die Welt sich anzupassen (Revolution) erleben Sie als täglichen Lernprozess andererseits, dass die Welt kontinuierlich und schleichend versucht, sie sich anzupassen (Evolution). Wie bei dem Spiel „Schifffe versenken“ weiß keine Partei von der Position der Schiffe des Gegners, sondern versucht durch intuitive Schüsse ins Blaue die Schiffe des Gegners zu versenken - mit jedem Schuss, egal ob Treffer oder Wasserkrepierer, wird jedoch mit der Zeit das Muster erkennbar, nachdem die andere Seite ihre Schiffe platziert hat und die Treffergenauigkeit steigt. Auch schon deshalb, weil der Spielraum, der noch nicht beharkt wurde, immer kleiner wird und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit der Zielgenauigkeit zuarbeiten. Ein Kind, dass keine Schüsse abgibt, wird sich das Muster, nachdem sein soziales Umfeld (Familie, Schule, Dorf, Staat) aufgebaut ist, nicht empirisch erarbeiten können sondern stets nur theoretisierend erahnen. Wer nicht feuert, wird nie erfahren, ob er getroffen hat oder nicht und wird nie die Lage der feindlichen Armada sprich die Struktur des ihn umgebenden Wertesystems erkennen können.

Bildquelle: www.br.de
Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass derjenige, der viele Schüsse z.B. auf das System, das ihn umgibt, abgibt, viel genauer dessen Struktur, Grenzen, Zusammenhänge, Muster und Codes kennt, als jener, der sich in das System eingliedert und es akzeptiert, sich als Bestandteil eines großen Ganzen mit klar zugewiesener Funktion, als Rädchen einer Maschine sieht. Wer kennt das System nun besser? Der Angepasste oder der Aufmüpfige. Der Etablierte oder der Terrorist? Und wer könnte nun leichter den richtigen Hebel finden, mit dem ein eventuell krankendes, erstarrtes System wieder in Bewegung gebracht werden könnte? Jener, der die Gesetze befolgt, oder jener, der die Gesetze missachtet, in Frage stellt, die Konsequenz daraus erfahren hat - also Vater Staats „Klaps“ auf den Hintern bekommen hat bzw. genau diese Reaktion des Systems provoziert? Oder noch provokanter ausgedrückt.
Von wem kann man eher lernen, wie Staat funktioniert (oder auch nicht) - von den Staatsfunktionären oder den Staatsfeinden?
Abimael Guzman (Leuchtender Pfad)Und um dieser zugegebenermaßen provokanten Betrachtungsweise noch eins draufzusetzen: Wer befasst sich mit den Werten des Systems mehr - jener, der sie nicht mehr hinterfragt, sondern nach ihnen funktioniert oder jener, der sie zerstören will? Denn letzterer muss sich bewusst oder unbewusst zumindest die Frage gestellt haben, warum diese Werte durch neue abgelöst werden sollen. In seiner System- und gleichzeitig selbstzerstörerischen Mentalität ist der Terrorist damit dem Inhalt des Wertesystems, dem Quellcode hinter den Buchstaben vielleicht sogar näher als die meisten theoretisierenden Politik- und Sozialwissenschaftler. Er lässt sich mit der Sonde vergleichen, die auf ihrem Kollisionskurs mit einem fernen Planeten zwar hautnahe Bilder und Informationen über diesen bislang unbekannten Himmelkörper zur Erde sendet, selbst aber von diesen Erkenntnissen nichts hat und früher oder (Bild: Abimael Guzman, Leuchtender Pfad) später verglüht. Die Bilder der Sonden werden ausgewertet, die verschlüsselten Signale des weltweit auftretenden Phänomens Extremismus und Terrorismus hingegen nur recht stümperhaft.
Eine Gesellschaft ohne Extremisten ist wie ein antiautoritär erzogenes Kind.
Extremismus als Aufbäumen einer alternativen Sicht der Dinge im Staat auf der einen Seite und die Überreaktion des Staates mit seinem Gewaltmonopol auf der anderen Seite definieren schmerzlich aber eindringlich für eine Gesellschaft die Grenzen ihrer Werteskala. Ohne die Erfahrung dieser Grenzwerte verkümmert eine Gesellschaft bis zur Debilität. Bedrohung bewirkt Gegenreaktion, rüttelt auf, macht Bewusstsein. Die traurige Seite der Medaille allerdings ist, dass eine Gesellschaft diese Erfahrung mit dem Leben wertvoller Menschen bezahlt und mit Kindern von Bankchefs, Konzernmanagern und Wirtschaftsfunktionären, die ohne ihre Väter aufwachsen müssen.
Bildquelle 9/11 ganz oben: Wikipedia.org (MattWade (talk | contribs))